Was ist der Haas-Effekt und wie kann ich ihn nutzen?


Anfang der 50er Jahre erlangten Audioforscher wichtige Erkenntnisse über die menschliche Wahrnehmung von Schall, Reflexionen und Echos. Ihre grundlegende Forschung ist nicht nur in der Theorie interessant, sie lässt sich auch beim Abmischen im Studio und im Live-Bereich praktisch anwenden. Doch zunächst schauen wir uns mal die zugrundeliegenden Prinzipien genauer an.

Eine Erkenntnis ist, dass unser Hörmechanismus die Intensitäten von Schallereignissen, die in kurzen Zeitabständen auf unser Ohr treffen, integriert - ähnlich wie ein ballistisches Messinstrument. Einfacher ausgedrückt: Unser Ohr und Gehirn haben die bemerkenswerte Fähigkeit, alle Reflexionen, die innerhalb von 35 bis 50 ms nach dem Direktschall eintreffen, zusammen zu erfassen, zu kombinieren oder zu integrieren, so dass der Eindruck entsteht, das gesamte Schallereignis käme von der ursprünglichen Schallquelle - obwohl dabei Reflexionen aus anderen Richtungen beteiligt sind.

Der Präzedenz-Effekt

Der Präzedenz-Effekt wurde erstmals 1949 vom Wissenschaftler Hans Wallach (1) und seinen Kollegen beschrieben. Sie zeigten, dass zwei identische Signale, die in kurzem Abstand aufeinander folgen, als ein einzelnes Schallereignis wahrgenommen werden. In ihrem Experiment trat die Verschmelzung auf, wenn die Verzögerung beider Signale zwischen 1 und 5 ms (bei kurzen Klickgeräuschen) bzw. bis zu 50 ms (bei komplexeren Klängen) lag. Der Zeitraum ist grundsätzlich von der Art des Signals abhängig: Bei Sprache hört der Präzedenz-Effekt bei Verzögerungen von über 50 ms auf, bei Musik sogar erst bei Werten von bis zu 100 ms. Wenn die Verzögerung eine bestimmte Länge überschreitet, wird das zweite Schallereignis als Echo wahrgenommen.

Zudem zeigten die Wissenschaftler, dass zwei aufeinanderfolgende Signale, die aus unterschiedlichen Richtungen stammen, zusammen als ein Schallereignis gehört werden. Hierbei war die Richtung des Signals, das zuerst am Ohr eintraf, richtungsbestimmend (daher der Name „Präzedenz“). Das zweite, später eintreffende Signal zeigte nur minimale Auswirkungen auf die Lokalisierung des zusammen erfassten, „gemischten“ Schallereignisses. Dieses Phänomen spielt eine wichtige Rolle für unsere Hörwahrnehmung in geschlossenen Räumen, da es uns ermöglicht, die Position einer Schallquelle (z.B. eines Lautsprechers oder Instruments) zu bestimmen, selbst wenn Reflexionen von den Wänden auftreten.

Der Haas-Effekt

Der Haas-Effekt geht auf eine Arbeit von Helmut Haas (2) aus dem Jahr 1951 zurück, in der er untersuchte, wie die Wahrnehmung von Sprache durch einzelne, kohärente Schallreflexionen beeinflusst wird. Er bestätigte Wallachs Arbeit, die zeigte, dass wir Schallquellen immer aus der Richtung des zuerst eintreffenden Signals lokalisieren, auch wenn einzelne Reflexionen aus abweichenden Richtungen auftreten.

Er demonstrierte zudem, dass eine Reflexion, die mindestens 1 ms nach dem direkten Schall eintrifft, die wahrgenommene Lautstärke und Breite der Schallquelle erhöht. Ferner kann eine einzelne Reflexion, die mit 5 bis 35 ms Verzögerung eintrifft, um bis zu 10 dB lauter als das Direktsignal sein, ohne dass sie als unabhängiges Sekundärsignal (Echo) wahrgenommen wird.

Zusammengefasst ist der Haas-Effekt eine besondere Form des Präzedenz-Effekts, bei der der Zeitraum, in dem der Schall als einzelnes Ereignis wahrgenommen wird, auf unter 35 ms beschränkt ist.

Figure 1 – Der Haas-Effekt im Hörsystem des Menschen. Im Bereich von 5 bis 35 ms muss der Pegel des Echos 10 dB lauter als der Direktschall sein, um ihn als Echo zu identifizieren. Bei Verzögerungen über 50 ms werden Reflexionen grundsätzlich als getrennte Echos wahrgenommen (3).

Der Haas-Effekt beim Abmischen

Du hast vielleicht schon einmal bemerkt, dass sehr kurze, verzögerte Reflexionen ein Gefühl von Räumlichkeit erzeugen können, während Reflexionen mit einer größeren Verzögerung als einzelne Wiederholungen wahrgenommen und besser lokalisiert werden können.

Im Allgemeinen wird die Richtungswahrnehmung in einem Audiomix durch die Panorama-Verteilung der Klangquellen erzielt. Hierbei wird einfach der Pegel angepasst, mit dem das Signal auf die jeweiligen Kanäle geht (gewöhnlich die linken und rechten Hauptkanäle einer Stereo-Mischung). Da wir Menschen uns bei der Lokalisierung von Schall jedoch sowohl auf die Lautstärke als auch auf das Timing der Signale verlassen, können wir auch Delays nutzen, um das Stereobild zu beeinflussen.

Eine Methode, ein breites Stereobild zu erzeugen und einem Mix mehr Tiefe zu verleihen, besteht darin, eine Mono-Spur zu duplizieren und die beiden Duplikate dann im Panorama ganz nach links und rechts zu verteilen. Wenn du dann ein kurzes Delay auf einer der Spuren hinzufügst, wirkt das Signal im Stereobild deutlich breiter. Die genaue Delay-Zeit ist dabei stark vom Signal abhängig, sodass du ein wenig experimentiert musst, um ein gutes Ergebnis zu erzielen. Die QSC TouchMix Mixer bieten hierfür ein Delay mit 100 ms pro Eingangskanal sowie ein weiteres Delay mit 100 ms in der Ausgangssektion. Reichlich Spielraum, um den optimalen Sweetspot zu finden und deinen Mix zu verbessern!

Als allgemeiner Richtwert eignet sich ein Delay von ca. 5 ms auf einer Spur, um die Lokalisierung der Schallquelle effektiv zu verbessern und einen leicht „gegenphasigen“ Klang zu erzeugen. Wird zum Beispiel der nach links gepannte Kanal um 5 ms verzögert, erscheint das Signal im nach rechts gepannten Kanal lauter. Bei mehr als 10 ms Delay wiederum wird ein breiteres Stereobild erzeugt; die zwei Mono-Spuren klingen breiter als bei einer reinen Panorama-Verteilung. Als Faustregel sollte die Delay-Zeit unter der Echo-Wahrnehmungsschwelle unseres Gehörs bleiben (ungefähr 35 bis 40 ms), sodass keine einzelnen Wiederholungen oder Echos hörbar werden.

Der Haas-Effekt im Live-Bereich

Der Haas-Effekt lässt sich auch gut für die Beschallung und PA-Systeme anwenden. Wenn Lautsprecher in unterschiedlichen Abständen zur Bühne vorhanden sind (Delay Lines), kannst du das Signal elektronisch um den gleichen Wert verzögern, den der Schall benötigt, um durch die Luft von der Bühne zu der jeweiligen Lautsprecherposition zu gelangen, plus weitere 10 bis 20 ms. Zusätzlich verstärkst du den Pegel um bis zu 10 dB im Vergleich zum Schall, der an dieser Stelle von der Bühne eintrifft.

Auf diese Weise bestimmt der zuerst ankommende Schall aus den Hauptlautsprechern an der Bühne die Lokalisierung der Schallquellen, während der etwas später eintreffende Schall der Delay Lines lediglich die wahrgenommene Lautstärke erhöht, ohne die Lokalisierung der Frontsignale negativ zu beeinflussen. Das Publikum wird somit den gesamten Schall als von der Bühne kommend lokalisieren und von einer höheren Gesamtlautstärke profitieren.

Die Aktivlautsprecher der QSC K.2 Serie™ und die aktiven Subwoofer der KS Serie verfügen über integrierte Delays, die sich bequem in Metern, Fuß oder Millisekunden einstellen lassen. Der Bereich von 0 bis 100 Millisekunden entspricht 0 bis 34 Metern oder 0 bis 113 Fuß. Zur Erinnerung: Die Referenz-Schallgeschwindigkeit liegt bei 344 m/s (1 Sekunde sind 1000 Millisekunden). Um Delay Lines korrekt einzustellen, misst du einfach die Entfernung zwischen der Front-PA und der Delay Line und gibst den entsprechenden Wert an den Lautsprechern der Delay Line ein.

Fazit

Psychoakustische Phänomene wie der Präzedenz- und der Haas-Effekt bieten neue kreative Möglichkeiten beim Abmischen. Zusammengefasst: Um ein breiteres, tieferes Stereobild zu erzeugen, duplizierst du zunächst eine Mono-Spur und pannst die eine ganz nach links und die andere komplett nach rechts. Dann verzögerst du einen der beiden Kanäle mit einem Wert zwischen 10 und 35 ms, und verbesserst damit dein Stereobild deutlich! Im Live-Bereich führen Delay Lines mit 10 bis 20 ms Verzögerung und bis zu 10 dB höherem Pegel im Vergleich zu den Hauptlautsprechern dazu, dass die Zuhörer alle Klänge als von der Bühne kommend lokalisieren und zusätzlich von einem höheren Gesamtpegel profitieren. Viel Spaß beim Mischen!


Quellen:

(1) Hans Wallach (28. November 1904 – 5. Februar 1998) war ein deutsch-amerikanischer Experimentalpsychologe, dessen Forschung sich auf die Wahrnehmung und das Lernen konzentrierte.

(2) Haas, Helmut, The influence of a single echo on the audibility of speech, J. Audio Eng. Soc., Vol. 20, Ausgabe 2, pp. 146-159, März 1972 (Englische Übersetzung von Dr. Ingr. K.P.R. Ehrenberg von Haas deutschem Originalartikels, veröffentlicht in Acustica 1, pp. 49-58, 1951).

(3) Abbildung aus dem Master Handbook of Acoustics, F. Alton Everest, Fourth Edition, McGraw-Hill, Seite 75, Fig 3-19.

Kommentieren

Deine Emailadresse wird nicht veröffentlicht. Markierte Felder bitte ausfüllen.

fünf + zwanzig =